Die Vorboten des 9. Mai

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Als Fotograf auf Reisen habe ich ein Gespür dafür entwickelt, wenn sich etwas zusammenbraut. Wenn sich Menschen plötzlich irgendwo sammeln oder einen Ort plötzlich wie zufällig verlassen. Wenn etwas oberflächlich normal wirkt, aber irgendwie “nicht stimmt”. In solchen Momenten denke ich mir oft: “Mal abwarten, wie sich das hier entwickelt”. Kurz darauf entstehen dann oft die besten Fotos.

Und hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

Aber der Reihe nach.

Ich war ja hauptsächlich nach Russland gekommen, um die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges (День Победы, Den’ Pobedy) mitzuerleben. Mein letzter Tag in Jekaterinburg hatte ganz ruhig mit einem Besuch in der Kirche und ein bisschen Sport begonnen, und bis zum 9. Mai waren es ja noch über zwei Tage hin. Man konnte zwar schon an allen Ecken Plakate, Fahnen und Verkaufsstände sehen, und vor dem Rathaus wurde schon die Bühne für die Parade aufgebaut, aber das war schon seit meiner Einreise so gewesen.

Daneben gab es auch andere Anzeichen, zum Beispiel waren immer wieder anreisende Soldaten zu sehen. Auch das nicht wirklich überraschend, immerhin fiel der 9. Mai 2017 auf einen Dienstag, es war Wochenende, und die Soldaten wurden wahrscheinlich entweder am Dienstag gebraucht oder hatten frei und waren auf dem Weg zu ihren Familien.

Im Park am Fluss Iset waren schon die letzten Tage über Gedenktafeln aufgebaut worden. Der 9. Mai ist nicht nur ein Tag für Paraden, sondern hauptsächlich für die Verehrung der Veteranen, und mittlerweile sind nicht mehr viele am Leben. Die Tafeln gedachten allen in diesem Jahr Verstorbenen.

Bis hier alles nicht sonderlich überraschend. Bei einem Besuch am Bahnhof hatte ich die seltene Gelegenheit, eine als eine Art “Zug des Sieges” aufgemachte Dampflokomotive zu sehen, welche gerade auf den Gleisen rangiert wurde. Die russischen Sicherheitsleute waren so stolz, dass sie mir ausnahmsweise das Filmen und Fotografieren erlaubt haben. Als ich kurz davor einen einfachen Regionalzug fotografieren wollte, kam mir sofort eine sich laut beschwerende Mitarbeiterin entgegen, und die Kamera musste weg!

Bei der Lokomotive handelte es sich um Nummer 4372 der russischen L-Klasse (Л-4372). Historisch nicht ganz korrekt: Als die erste L-Klasse aus der Fabrik rollte, war die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht schon fünf Monate her. Dafür wurde diese Lokomotive dann später die meist gebaute der gesamten Sowjetunion.

Mein erstes Foto mit Stalin-Motiv. Ein paar Tage später sollte es davon dann fast schon zu viel geben… 🙂

Kurze Zeit später tauchte eine Diesellokomotive auf und schob die schöne Dampflok auf ein Abstellgleis.

Ich machte mich wieder auf den Rückweg in die Innenstadt und war gerade auf die nach Lenin benannte Hauptstraße проспект Ленина (Prospekt Lenina) gebogen, als ein altes russisches Polizeiauto mit quietschenden Reifen an einer Ampel zum Stehen kam, quer zur Fahrbahn, und einem Fahrer den Weg abschnitt. Kurz darauf stieg ein Polizist aus und ließ den Fahrer das Fenster herunterkurbeln. Die Fußgänger gingen einfach weiter, Verkehrskontrollen sind nichts Besonderes.

Aber es stimmte etwas nicht. Der Fahrer durfte ohne Strafzettel weiterfahren, das Polizeiauto blieb stehen, die Straße blieb blockiert, und alle anderen Autos mussten umdrehen. Zeit für mich, stehen zu bleiben und weiter zu beobachten…

Einige hundert Meter vor mir lagen das Rathaus mit der Lenin-Statue und der Tribüne für die Parade. Aus dieser Richtung kamen immer weniger Fußgänger, dafür tauchten kleine Grüppchen von Polizisten auf. Ab und zu fuhren weitere Polizeiautos vorbei. Dann plötzlich ein LKW des Militärs. Und ich wusste sofort: Hier findet gleich eine Generalprobe der Parade statt. Ich wusste, dass die Parade in Moskau insgesamt mehrere Male geübt wird, aber dass das auch in Jekaterinburg passiert, hatte ich nicht gewusst.

Jetzt hieß es schnell sein. Ich lief sofort mitten vors Rathaus bevor die Polizei alle Absperrungen aufgebaut hatte. In der Verwirrung haben wohl alle (wie schon beim Marathon…) angenommen, dass der Typ mit der großen Kamera zu den offiziellen Fotografen gehört, und so konnte ich mich eine Weile ungestört direkt vor der Nase der Soldaten bewegen.

Noch schnell die Markierungen ausbessern, damit am 9. Mai ja alles passt…

Nach einer Weile wurde ich dann doch von einem Soldaten entdeckt und äußerst höflich hinter die Absperrung gebeten. Ich habe übrigens in meiner gesamten Zeit in Russland keinen einzigen unhöflichen Menschen in Uniform getroffen, ganz im Gegenteil!

Als der Soldat einen Blick auf meine Kamera warf, gab es sogar einen Tipp: Um die nächsten zwei Häuserblocks laufen und an der Brücke über den Iset warten. Also los. An der Engstelle war die Absperrung dann tatsächlich so nahe an der Straße, dass ich schon mit freiem Auge alles sehen konnte!

“Ähm, Schatz, da steht ein Panzer vor der Haustür…”

“Panzer? Meinst du vielleicht die Haubitze?”

Selten zu sehen: Eine mobile Startrampe für das russische S-300 Luftabwehrsystem. Dieses System soll im Moment z.B. in Syrien stationiert sein.

Jede Parade wird traditionell von einem originalen T-34 aus dem zweiten Weltkrieg angeführt. Die Panzer werden seit über 70 Jahren liebevoll gepflegt, allerdings sollte es auch keinen Mangel an Ersatzteilen geben. Denn insgesamt sollen etwa 35.000 Stück gebaut worden sein.

Der junge Soldat hisst gerade die Flagge der 150. Schützendivision, welche durch das Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Reichstag berühmt wurde. Auf der Seite des Panzers steht der Satz нa берлин!, übersetzt “Nach Berlin!”.

Acht Leute schuften, aber nur der ganz hinten hängt sich voll rein 😉

Der Aufbau der kompletten Parade war nach etwa zwei Stunden beendet, aber dann passiert erst mal drei Stunden nichts. Soweit ich verstanden habe, gab es technische Probleme und der Start wurde immer wieder wieder verschoben. Ein Glück, dass es nur eine Generalprobe war!

Die Motoren wurden immer wieder angelassen, aber dann doch wieder abgestellt. Es wurde immer kälter. Erst vier Grad, dann zwei, dann Null. Ich konnte irgendwann kaum noch stehen oder die Kamera ruhig halten. Aber mittlerweile standen wir schon seit vier Stunden am Straßenrand, und wer will da schon aufgeben?

Gegen elf Uhr abends dann endlich, endlich die Erlösung. Mit zittrigen Händen noch folgendes Video aufgenommen, dann glücklich zurück ins Hotel. Do Swidanja, Jekaterinburg, morgen wartet die Transsibirische Eisenbahn!

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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