Ein Tag… in der Evakuierungszone des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi

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Hinweis: Dieser Artikel behandelt ein Gebiet, welches von einem der stärksten jemals aufgezeichneten Erdbeben, einem katastrophalen Tsunami, mehreren nuklearen Kernschmelzen und der Freisetzung von radioaktivem Material in die Atmosphäre, das Meer und den Boden betroffen ist. Tausende Menschen sind hier ums Leben gekommen, Zehntausende haben ihre Heimat verloren, viele werden für Jahrzehnte nicht zurückkehren können. Falls Ihr beabsichtigt, die Evakuierungszone von Fukushima zu besuchen, tut dies bitte mit Respekt, angemessenen Sicherheitsvorkehrungen und begleitet von einem Experten. Leichtsinniger Umgang mit radioaktiver Strahlung und radioaktiven Stoffen stellt ein ernsthaftes Risiko für die Gesundheit dar!

Ich war der einzige Ausländer im Zug, wie schon so oft zuvor. Das war auch nicht wirklich schwierig gewesen – es waren nur noch fünf Passagiere übrig, und ich nehme an, dass diese Bahnlinie auch sonst nicht viele Ausländer befördert. Ich kontrollierte ein letztes Mal mein Gepäck und warf einen Blick nach draußen. Es war dunkel, kalt und regnerisch, wie man es an einem Sonntag Mitte Oktober um neun Uhr abends wohl auch erwarten würde, und die düstere Stimmung passte zum Anlass meiner Reise. Die Stimme vom Band rief meine Endhaltestelle auf, und ich stieg aus.

Haranomachi (原ノ町), vier Haltestellen auf der Jōban-Linie (常磐線) vor der derzeitigen Grenze zur Evakuierungszone um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.

Wie war ich hier gelandet?

Im Jahr 2016 war ich im Internet über die Ankündigung gestolpert, dass Teile der Evakuierungszone von Fukushima, einem radioaktiv verseuchten Sperrgebiet im Umkreis von 20 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi (福島第一原子力発電所), aufgehoben worden waren, und eine kleine Gruppe von Freiwilligen Führungen für Interessierte anbot. Als ich Mitte 2017 meine kleine Weltreise plante, dachte ich sofort wieder an diese Nachricht. Allerdings zögerte ich zunächst. Wie sah es mit der Sicherheit aus? Wollten die Bewohner überhaupt, dass ich dort herumstapfte? Warum wollte ich ein Katastrophengebiet besuchen, in welchem Tausende von Menschen ihr Leben verloren hatten und die Überlebenden höchstwahrscheinlich noch jahrzehntelang zu kämpfen haben würden? Ein radioaktiv verseuchtes Sperrgebiet war sicherlich kein Ort für Touristen auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel.

Nach einigen Wochen war ich zum Schluss gekommen, dass ich nur in die Gegend reisen würde, falls ich dort willkommen war und den Überlebenden im Austausch irgendetwas anbieten könnte. Die Katastrophe von Fukushima war in Europa schnell aus allen Nachrichtenkanälen verschwunden, obwohl viele Europäer in der Nähe von Atomkraftwerken leben und einige davon sogar in geologisch aktiven Regionen wie dem Rheintal gebaut worden waren. Was in Fukushima passiert war, konnte auch in Europa sehr leicht passieren, aber kaum jemand schien sich wirklich darum zu kümmern.

Ich wollte daher das Schicksal jener Menschen einfangen, welche von einer Minute zur nächsten alles stehen und liegen lassen mussten und erst sechs Jahre später zurückgekehrt waren, um ihre früheren Häuser und Städte wieder aufzubauen. Ich fand die Internet-Auftritte zweier Nichtregierungsorganisationen, welche Führungen anboten, ließ Google Translate die Inhalte übersetzen und formulierte kurze E-Mails in einfachem Englisch. Zwei Wochen später erhielt ich eine Antwort von Karin Taira. Das NOMADO-Projekt, dessen Mitglieder bereits Tausende von japanischen Staatsbürgern durch die Gegend geführt hatten, hatte ihr meine E-Mail weitergeleitet, weil sich keines der Mitglieder eine Antwort auf Englisch zutraute.

Karin hat einen Master-Abschluss in Internationaler Politik, spricht ausgezeichnetes Englisch und war sehr erfreut, mich in der Evakuierungszone willkommen zu heißen und herumzuführen. Sie hatte kürzlich nur 15 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt in Odaka (小高町) das Lantern House, ein Bed & Breakfast, eröffnet. In den folgenden Wochen planten wir sorgfältig meinen Besuch in der Evakuierungszone. Ich hatte nicht erwartet, eine so engagierte Expertin wie Karin kennenzulernen. Sie kennt wirklich jedes Detail, jeden Ort und jede Person in der Gegend. Als ich ihr vorschlug, vielleicht auch ein Interview mit einem der ehemaligen Evakuierten zu führen, war sie begeistert. Sie arrangierte ein Treffen mit Katsumi Anbe, einem Beamten der Stadtregierung, welcher vor der Katastrophe für die Grund- und Mittelschulen in Odaka zuständig gewesen war.

Am 15. Oktober 2017 stieg ich aus dem Zug, wurde von Karin empfangen und fuhr mit ihr zum Lantern House. Ich schlief in einem großen, schönen Tatami-Raum ein und wurde am nächsten Morgen vom Duft eines leckeren Frühstücks geweckt.

Ein erster Blick

Karin wollte mir einen guten Überblick verschaffen bevor wir später Herrn Anbe treffen sollten, also unternahmen wir eine kurze Fahrt an die Küste, durch Namie (浪江町) und zurück. Der Himmel war bewölkt und tauchte die Szenerie in ein düsteres Licht, so dass alles noch trauriger und surrealer aussah, als es sowieso schon der Fall war. Wir nahmen einen tragbaren Geigerzähler mit GPS-Funktion mit, ein von der SAFECAST-Gemeinschaft entwickeltes Gerät namens bGeigie Nano, welches via Bluetooth mit Karins iPhone verbunden war. Es zeichnete ständig unsere Route und die Strahlenbelastung auf –  zu unserem Schutz, und damit Karin die Daten später mit der Gemeinschaft teilen konnte. Jedes Mal, wenn wir an einer offiziellen Messtation vorbei kamen, kontrollierten wir die gemessenen Werte auf Abweichungen.

Der Strand war nicht nur vom Erdbeben, sondern auch vom Tsunami getroffen worden. Im Gegensatz zu den Küstengebieten der angrenzenden Präfekturen Miyjagi (宮城 県) und Ibaraki (茨城 県) war die Bergung der Trümmer hier bis April 2016 wegen der hohen Strahlenbelastung unmöglich gewesen. Ich hatte also die einmalige Gelegenheit, viele Gebäude und Objekte zu fotografieren, welche in den folgenden Monaten abgerissen und entfernt werden würden.

In der Nähe der Küste hatte der Tsunami die Gebäude mit bis zu sechs Meter hohen Wellen getroffen. Als er seine Richtung später änderte und sich wieder in das Meer zurückzog, riss er viele der Trümmer mit sich. Kaum zu glauben, dass einige Betongebäude den Wassermassen stand gehalten hatten und sechs Jahre später immer noch dort standen. Überraschenderweise war der Tsunami selbst nicht so verheerend gewesen, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Das Wasser war in dieser Gegend nicht sehr weit gekommen, sondern auf dem Weg ins Landesinnere von einer erhöht verlaufenden Straße aufgehalten worden.

Die meisten Gebäude waren also nur vom Erdbeben beschädigt geworden, weshalb noch viele persönliche Gegenstände in den Ruinen zu sehen gewesen waren. Wir haben allerdings davon abgesehen, die Gebäude zu betreten – einerseits wegen der stark beschädigten Bausubstanz, vor allem aber aus Respekt vor den Opfern und Hausbesitzern. Es handelte sich hier schließlich nicht um ein komplett verlassenes Gebiet. Die Bewohner würden vielleicht eines Tages zurückkommen, um ihr Privateigentum zu besuchen oder es sogar wieder aufzubauen, und ich wollte nicht, dass sie dann die Spuren eines ausländischen Eindringlings in ihrem ehemaligen Wohnzimmer vorfinden mussten. Es hatte allerdings bereits einige Probleme mit Plünderungen gegeben, besonders wegen des Metallschrottes.

Hunderte von Arbeitern und Lastwagenfahrern waren mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Viele arbeiteten auch am Bau der Protection Wall, einem etwa 400 Kilometer langen und bis zu 12 Meter hohen Damm. Auf der Höhe des Fischereihafens von Ukedo, wo diese Bilder entstanden, war die Mauer ungefähr sieben Meter hoch.

Dieses Schulgebäude befindet sich ganz in der Nähe der Küste und liegt auf einem erhöhten, von Betonmauern geschützten Grundstück. Als die Katastrophe begann, liefen etwa 200 Schulkinder um ihr Leben und flüchteten in die nahen Hügel.

Eine kleine Gedenkstätte auf einem dieser nahe gelegenen Hügel erinnert an diejenigen, die in den Stunden und Tagen nach der Naturkatastrophe ihr Leben verloren haben, und dient auch als Friedhof für einige der vielen Gräber. Von dort aus konnte man das volle Ausmaß der Katastrophe sehen. Früher standen hier Häuser, übrig geblieben war nur das Grasland.

Wir drehten mit dem Auto eine kurze Runde durch Namie. Vor der Katastrophe betrug die offizielle Einwohnerzahl 18.075, im Oktober 2017 lag sie bei Null. Namie wäre als Geisterstadt durchgegangen, wenn Bauarbeiter nicht mit dem Abriss einiger Gebäude beschäftigt gewesen wären. Karin hat mir mitgeteilt, dass einige der auf diesen Bildern zu sehenden Gebäude mittlerweile bereits abgerissen wurden.

Der Bahnhof Namie (浪江駅) war wieder aufgebaut worden und lag nur 500 Meter nördlich von der Grenze zur “verbotenen” Roten Zone. Er markierte damit das südliche Ende der nördlichen Hälfte der Jōban-Linie. Die Bahnlinie war durch das Erdbeben stark beschädigt worden und ist immer noch unterbrochen, da sie durch die Rote Zone verläuft. Einige Wochen nach meinem Besuch, noch im Oktober 2017, wurde der Bahnhof Tomioka (富岡駅) wieder eröffnet. Derzeit ist unklar, wann er wieder mit dem Bahnhof Yonomori (夜ノ森駅) verbunden werden wird, welcher buchstäblich nur einige Meter innerhalb der Roten Zone liegt.

Im Jahr 2010, ein Jahr vor der Katastrophe, bedienten die Bahnhöfe Tomioka und Yonomori jeweils mehr als 300 Zugpassagiere pro Tag, während der Bahnhof Namie sogar auf 734 kam. Im Oktober 2017 standen die Einwohnerzahlen von Tomioka und Namie bei Null.

Markierungen wie diese sind heute überall in Japan zu sehen und erinnern daran, wie nahe viele Ort am Meeresspiegel liegen. Auch in Tokio befinden sich viele Standorte in weniger als zehn Metern Meereshöhe.

Arbeiter waren damit beschäftigt, die Vegetation zu stutzen. An vielen Stellen schien es sich um Rapspflanzen zu handeln. Anscheinend absorbiert Raps das radioaktive Cäsium aus dem Boden, lagert es aber nur in den Blättern und Stängeln und nicht in den Blüten und Samen ein. Die Samen können daher noch verarbeitet werden, nur der Rest der Pflanze muss entsorgt werden. Dies ist aus drei Gründen besonders wichtig:

Zum Ersten hat Cäsium-137 eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren und muss so schnell wie möglich entfernt werden, damit es nicht noch für viele Jahrzehnte ein großes Problem darstellt. Zweitens können viele Bereiche, insbesondere Felder und Wälder, nicht effizient mit mechanischen Methoden dekontaminiert werden. Drittens, wenn die Menschen zurückkommen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen wollen, wäre die Landwirtschaft eine wichtige Branche (die Präfektur Fukushima war schon immer eine wichtige heimische Quelle für verschiedene Früchte). Falls Raps tatsächlich in großem Maßstab Cäsium aus dem Boden extrahieren und im Pflanzenmaterial speichern kann, aber das Saatgut noch sicher zu Öl verarbeitet werden kann, wäre dies eine mögliche Option für die Zukunft. Außerdem kann der Pflanzenabfall zur Generierung von Strom aus Biomasse verwendet werden.

Das Interview

Wir fuhren zum Odaka Community Center um dort Herrn Anbe zu treffen. Da das Krankenhaus und die meisten anderen öffentlichen Einrichtungen geschlossen bleiben, ist dieses Gemeinschaftszentrum zu einer Anlaufstelle für die wenigen Bewohner in der Gegend geworden. Es waren auch einige wichtige medizinische Instrumente vorhanden, so dass die Leute nicht jedes Mal in eine weit entfernte Arztpraxis fahren mussten.

Herr Anbe hatte einem Interview zugestimmt, nachdem Karin ihm von meinem Vorhaben erzählt hatte, und ich hatte eine Liste von Fragen vorbereitet. Karin übersetzte hin und her, da weder Herr Anbe noch ich die Sprache des jeweils Anderen ausreichend gut beherrschten, und machte dabei einen wirklich fabelhaften Job. Ich packte mein bestes Japanisch aus (naja…), wir deuteten und malten auf Karten und Zetteln, und schnell war die Sprachbarriere fast vergessen.

Herr Anbe hatte das Erdbeben, den Tsunami, die Evakuierung und alles, was danach folgte, durchlebt. Ich empfand ihn sofort als eine sehr freundliche, ruhige, fröhliche und gut organisierte Person. Er hatte einen Stapel Bücher mit Details über die einzelnen Katastrophen mitgebracht, kannte aber die meisten Daten auswendig. Ich bin immer noch sehr dankbar für seine Bereitschaft, sich zwei volle Stunden mit uns zu unterhalten.

Meine erste Frage war jene nach dem Leben vor der Katastrophe. Etwa 13.500 Menschen hatten in Odaka gelebt, etwa 65.000 Menschen in der Stadt Minamisōma (南相馬市), zu welcher der Stadtteil gehört. Herr Anbe war vor der Katastrophe für die Verwaltung der Kindergärten und Grundschulen verantwortlich gewesen, und alles war so normal wie eben an jedem anderen Ort in Japan gewesen.

Das Tōhoku-Beben am 11. März 2011 erreichte eine Stärke von 9,1 auf der Richterskala und war damit eines der stärksten jemals registrierten Beben. Das Epizentrum lag nur 70 Kilometer vor der Küste der Oshika-Halbinsel, löste einen Tsunami mit Wellen von bis zu 40,5 Metern Höhe aus und schob die gesamte japanische Hauptinsel 2,4 Meter (!) nach Osten. Mehr als 15.000 Menschen kamen ums Leben, viele werden immer noch vermisst, mehr als eine Million Gebäude wurden beschädigt oder sind eingestürzt. Die Weltbank bezeichnet das Desaster immer noch als die teuerste Naturkatastrophe der Weltgeschichte. Viele Kraftwerke wurden beschädigt, und auch bei meinem Besuch Ende 2017 musste die Bevölkerung noch Energie sparen.

Als das Erdbeben um 14:46 Uhr mit einer Stärke von 6,9 auf Odaka traf, war Herr Anbe gerade im Rathaus. “Es dauerte ungefähr dreieinhalb Minuten, und viele Dokumente und Ordner waren auf den Boden gefallen. Die Leute mussten das Gebäude wegen mehrerer Nachbeben fluchtartig verlassen und sich in Sicherheit bringen. Der Bürgermeister ordnete sofort die Errichtung eines Notfallinformationszentrum für die Katastrophenhilfe an. Aber die meisten Stromleitungen waren unterbrochen, die Mobilfunknetze waren schnell überlastet und mussten auf Notfallkommunikation eingeschränkt werden, so dass Informationen nicht mehr ungehindert fließen konnten. Ich konnte nicht einmal die örtlichen Schulen erreichen und nachfragen, ob alles in Ordnung war.

Der Tsunami traf das Gebiet eine Stunde später zwischen 15:35 und 15:40 Uhr, aber viele (einschließlich Herrn Anbe selbst) wussten nichts davon. “Ich erfuhr erst viele Stunden später davon, als ich an einem funktionierenden Fernsehgerät vorbei kam. Die Stadtbeamten des Katastrophenschutzes wussten von Anfang an über den Tsunami Bescheid, hatten aber Schwierigkeiten, die Küste zu erreichen, weil die Hauptverkehrsstraßen blockiert waren. Niemand wusste wirklich, was da draußen vor sich ging.

Was mich am meisten verwirrte, war, dass sowohl Herr Anbe als auch Karin bis zu diesem Zeitpunkt alles als “normal” beschrieben hätten. Die Japaner haben sich in einem Maß an Naturkatastrophen gewöhnt, welches ich auch Monate später noch nicht völlig begreife. In Deutschland bricht alles zusammen, wenn nach wochenlangem Starkregen ein Fluss über die Ufer tritt oder unerwartet kaltes Wetter herrscht. Falls Mitteleuropa von einem gewaltigen Erdbeben getroffen würde (das Größte in der neueren Geschichte erreichte 1356 eine Stärke von weniger als 6,9), glaube ich nicht, dass die Deutschen damit annähernd so gut umgehen würden wie die Japaner.

Ich hätte nie gedacht, dass das Atomkraftwerk im Falle einer Naturkatastrophe zu einem Problem werden würde“, meinte Herr Anbe. “Die Menschen vertrauten der Tokyo Electric Power Company (TEPCO, 東京 電力 電力 ホ デ ィ ン ス 株式会社 株式会社) und der Regierung. Bewohner der Städte in der Nähe der Atomkraftwerke wie Futaba, Ōkuma, Tomioka und Naraha hatten schon seit Jahrzehnten zusammen mit TEPCO für eine Evakuierung geprobt, was die Öffentlichkeit weiter beruhigte.

In Wahrheit hatte es seit der Inbetriebnahme des Kraftwerks im Jahr 1971 zahlreiche Vorfälle gegeben. Mitarbeiter von TEPCO hatten die vielen Warnungen über die Unsicherheit ihres Kraftwerks ignoriert, regelmäßige Kontrollen und Wartungsarbeiten versäumt, sicherheitsrelevante Probleme vertuscht und sogar Sicherheitsberichte gefälscht. Es war auch schon lange bekannt gewesen, dass die Anlage einem großen Tsunami nicht würde standhalten können. 1991 war eines der Notstromaggregate von Reaktor 1 sogar schon ein Mal mit Meerwasser geflutet worden, aber TEPCO hatte lediglich zusätzliche Schutztüren eingebaut. Eine Sicherheitsstudie aus dem Jahr 2008 ergab, dass das Kraftwerk umgehend vor einem Tsunami mit Wellen von einer Höhe von bis zu 10 Metern geschützt werden musste. Die Japanische Nuclear Safety Commission hatte TEPCO beauftragt, bis zum 2. Juni 2011 einen Plan zu erstellen, welcher alle noch offenen Probleme beheben sollte. Dieser Termin wäre drei Monate nach der Katastrophe gewesen.

Eine Karte der Region rund um die Atomkraftwerke Fukushima Daiichi und Daini mit einigen wichtigen Abständen. Map tiles © 2018 OpenStreetMap contributors, zusätzliche Informationen von mir selbst.

Kernkraftwerke können nicht einfach abgeschaltet und vom Stromnetz genommen werden. Die meisten Komponenten (Ventile, Pumpen, Messgeräte usw.) benötigen weiterhin elektrischen Strom. Die abgebrannten Brennelemente müssen jahrelang kontinuierlich gekühlt werden, damit sie sich nicht erhitzen und radioaktives Material an die Luft abgeben. Wenn die Anlage nicht selbst die dafür nötige Energie produziert, muss diese aus dem Stromnetz oder aus Ersatzquellen wie Generatoren oder Batterien kommen. Im Falle des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi wurde der Zugang zum Stromnetz durch das Erdbeben unterbrochen, und 13 Dieselgeneratoren liefen an. Bis Wellen zwischen 13 und 15 Metern Höhe auf die Küste trafen, die 5,7 Meter hohe Ufermauer mühelos überschwemmten, den Keller des Kraftwerks vier Meter hoch fluteten, die Dieselgeneratoren außer Betrieb setzten und einen wichtigen Schaltraum zerstörten.

TEPCO schickte sofort mobile Dieselgeneratoren und zusätzliche Batterien nach Fukushima Daiichi. Aber wegen der beschädigten Straßen dauerte es sechs Stunden, bis die erste Ausrüstung ankam, und dann konnte diese nicht mit den Reaktoren verbunden werden. Der Verbindungspunkt war überflutet und die notwendigen Verbindungskabel fehlten. Die existierenden Notfall-Batterien reichten theoretisch für acht Stunden und waren gegen 23:00 Uhr leer. Die Reaktoren gerieten endgültig außer Kontrolle. Die Regierung reagierte mit der Ankündigung eines dreistufigen Evakuierungsprozesses, an welchen sich Herr Anbe sehr gut erinnerte: “Um 23:03 Uhr wiesen sie alle Einwohner in einem Umkreis von drei Kilometern (im Grunde das komplette Stadtgebiet von Futaba und Ōkuma) an, sofort zu fliehen. Dann wurde der Radius auf zehn Kilometer erweitert, dann auf zwanzig“. Einwohner in einem Umkreis von zwanzig Kilometern sollten sich darauf vorbereiten, evakuiert zu werden, und wer in einem Umkreis von zwanzig bis dreißig Kilometern lebte, sollte das Haus nicht verlassen.

Nach dem Erdbeben und dem Tsunami mussten in ganz Japan rund 300.000 Menschen evakuiert werden. Plötzlich stieg diese Zahl um weitere 170.000 Menschen aus der Nähe des Atomkraftwerks. Viele von ihnen mussten innerhalb eines einzigen Tages ihre Heimat verlassen, und die meisten ohne einen echten Plan. Bewohner der Städte Ōkuma und Tomioka hatten für die Evakuierung geprobt und evakuierten in Richtung Süden. Der größte Teil von Namie liegt nur zehn Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt, aber auch etwa vier Kilometer von der Küste, weswegen die Bevölkerung weder auf atomare Störfälle noch auf Tsunamis vorbereitet gewesen war.

Viele flohen nach Minamisōma, aber am 12. März um 15:36 Uhr (fast genau 24 Stunden nach dem Tsunami) explodierte eine Wasserstoffblase in Reaktor 1. Am nächsten Tag erwähnten Beamte erstmals, dass es zu einer Kernschmelze gekommen sein könnte. TEPCO gab später zu, dass die Kernschmelze im Reaktor 1 bereits fünf Stunden nach dem Tsunami begonnen hatte, weil die Reservebatterien beschädigt worden waren. Als sich die Gerüchte um die Kernschmelze zu verbreiten begannen, ließ der Reaktor bereits Radioaktivität in die Umwelt frei und der Brennstoff war durch den Boden des Sicherheitsbehälters geschmolzen.

Karin hatte eine Karte mitgebracht, und Herr Anbe erklärte. “Der Wind weht im Winter normalerweise von Westen nach Osten, und so war es auch, als die radioaktiven Partikel freigesetzt wurden. Etwa 90 Prozent des radioaktiven Materials wurde auf das Meer hinaus geblasen. Später änderte der Wind jedoch seine Richtung nach Nordwesten, und es regnete an diesem Tag, so dass der größte Teil des Materials innerhalb von etwa 100 Kilometern um das Kernkraftwerk herunterkam und den Boden verseuchte“. Ein Teil der radioaktiven Partikel gelangte sogar bis nach Tokio. Ein Störfall in Mitteleuropa wäre noch weit schlimmer, da dort kein Meer existiert. Der Fallout würde 100 Prozent betragen – nicht nur zehn Prozent.

Es folgten zwei weitere Explosionen in den Reaktoreinheiten 3 und 4. Am 15. März, viel zu spät, wurde schließlich jeder im Umkreis von 20 Kilometern gezwungen, das Gebiet zu verlassen. Dies betraf nun auch Teile von Minamisōma selbst, den Stadtteil Odaka und den südlichen Teil von Haramachi. Ausländische Regierungen arbeiteten mit völlig anderen Zahlen: Die US-Botschaft empfahl Amerikanern, alle Gebiete im Umkreis von 80 Kilometern um das Kernkraftwerk zu räumen. Spanien empfahl 120 Kilometer, und die deutsche Botschaft riet sogar, Tokio (etwa 230 Kilometer entfernt) zu verlassen. Gregory Jaczko, der Vorsitzende der Nuclear Regulatory Commission der Vereinigten Staaten, sagte vor dem Kongress aus, dass er nicht daran glaube, dass die Japaner die ganze Geschichte erzählen würden, und er selbst einen viel größeren Evakuationsradius empfehlen würde.

Eine Karte der Präfektur Fukushima mit den zum 22. März 2018 in der SAFECAST-Datenbank verzeichneten Strahlungsmesswerten. Licensed under the CC Creative Commons BY-NC 3.0 license.

Ich fragte Herr Anbe nach seinen Erinnerungen an diese Zeit. “Es war chaotisch“, antwortete er. “Sie konnten die Bevölkerung nicht mehr kontrollieren. Die Straßen waren blockiert oder verstopft. Die Menschen wurden von den Self Defense Forces (Anm.: die Japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte) aus ihren Häusern vertrieben, wussten aber nicht, wohin. Viele waren nicht auf die Evakuierung vorbereitet, sie dachten, sie würden innerhalb von Tagen oder maximal ein bis zwei Wochen zurückkehren können. Also brachten sie oft nicht einmal genug Kleider zum Wechseln mit. Aber später wurde ihnen klar, dass sie nicht zurückkommen konnten, und viele mussten für Monate in Notunterkünften leben.

Er erklärte mir auch, dass es für solche Fälle üblicherweise Abkommen zwischen den japanischen Präfekturen gäbe, damit die Evakuierten wüssten, wohin sie flüchten sollten, und damit die Partnerstädte im Gegenzug wüssten, was und wen sie zu erwarten hätten. “Es gab keine solchen Vereinbarungen für Minamisōma. Der Gouverneur der Präfektur hätte andere Präfekturen kontaktieren müssen, aber das ist nicht geschehen. Deshalb hat der Bürgermeister der Stadt, Katsunobu Sakurai, damit begonnen, benachbarte Städte und Präfekturen direkt zu kontaktieren“. Später erfuhr ich aus dem Internet, dass die Vorgesetzten von Bürgermeister Sakurai mehrmals erklärt hätten, dass es keinen Grund zur Panik gäbe. Er selbst sagte aber später in einem BBC-Interview aus, dass er “ignoriert und böse in die Irre geleitet” (“ignored and then badly misled”) worden sei, und dass die Bürger der Stadt “hier zurückgelassen wurden, um zu sterben” (“and as a result the people were abandoned here to die“). Eine geradezu unglaublich deutliche Aussage für einen japanischen Beamten in dieser Position.

Die Evakuierten wurden über ganz Japan verstreut, was zahlreiche Probleme aufwarf. Sie mussten neue Häuser und neue Arbeitsplätze finden, die Kinder und jungen Erwachsenen mussten neue Freunde finden und neue Schulen besuchen. “Das japanische Schuljahr endet im März und beginnt im April“, erzählte Herr Anbe. “Also waren immerhin alle Prüfungen schon geschrieben und niemand verlor ein ganzes Schuljahr. Aber die Kinder waren jetzt von ihren Freunden getrennt, mussten neue Schulen besuchen, und einige von ihnen waren traumatisiert, was psychischen Stress verursachte“. Viele Evakuierte können TEPCO und der Regierung immer noch nicht für eine zu Recht als unnötig empfundene Katastrophe verzeihen, welche hätte verhindert werden können.

Das Kernkraftwerk Fukushima Daini, nur 30 Kilometer südlich von Fukushima Daiichi gelegen, war ebenfalls durch das Erdbeben beschädigt und durch den Tsunami überflutet worden, was zu einem Evakuierungsbefehl für einen Radius von 10 Kilometern geführt hatte. Aber der Schaden war nicht so katastrophal wie in Fukushima Daiichi, und den Arbeitern gelang es, eine Kernschmelze abzuwenden. Da es keine ernsthafte Kontamination gegeben hatte, wurde der Evakuierungsbefehl bereits im August 2012 aufgehoben.

Die Bewohner der Evakuierungszone um Fukushima Daiichi hatten nicht so viel Glück. Gespräche über die Aufhebung des Evakuierungsbefehls begannen bereits 2012, aber das verseuchte Gebiet war sehr viel größer als angenommen, die Strahlenbelastung blieb hoch und die Dekontamination dauerte entweder länger als erwartet oder war nicht praktikabel (etwa im Fall von Wäldern). Der Bürgermeister von Ōkuma bat darum, seine Stadt zum dauerhaften Sperrgebiet zu erklären, damit sich niemand mehr Hoffnungen machen würde, in absehbarer Zeit zurückkehren zu können.

Die Gesamtkosten für Dekontaminierung, Stilllegung und Entschädigungen werden auf rund 200 Milliarden US-Dollar geschätzt, von welchen TEPCO 65 Milliarden übernehmen soll.

Der Status Quo

Im Jahr 2015 teilte die Regierung die ursprüngliche 30-Kilometer-Evakuierungszone in drei Unterzonen mit verschiedenen Farben auf. In der Grünen Zone ist die Strahlung so weit gesunken, dass die Bewohner dauerhaft in ihre Häuser zurückkehren können. In der Orangen Zone ist die Strahlung niedrig genug, um ein Betreten ohne Schutzausrüstung zu erlauben, aber dauerhaft ansiedeln darf sich dort niemand. Die Rote Zone ist im Grunde weiterhin ein Sperrgebiet mit so hohen Strahlungswerten, dass sich niemand länger als nötig dort aufhalten sollte. Auf der Route 6, einer Schnellstraße welche unter Anderem Namie mit Tomioka verbindet und durch die Rote Zone führt, werden die Fahrer gebeten, nicht anzuhalten oder gar das Auto zu verlassen.

Eine Karte der verschiedenen Evakuierungszonen, welche seit dem 10. März 2017 in Kraft sind. Copyright © The Japanese Government

Der Evakuierungsbefehl wurde seitdem mehrfach überarbeitet, um den sinkenden Strahlungswerten Rechnung zu tragen. Beispielsweise wurden 2016 die ersten Teile von Odaka zu Orangen und Grünen Zonen erklärt. Nach der letzten Aktualisierung Anfang 2017 waren nur noch weniger als die Hälfte der Flächen innerhalb eines 20-Kilometer-Radius um das Atomkraftwerk als Orange oder Rote Zone markiert. Die Rote Zone erstreckt sich allerdings weit nach Nordwesten, stellenweise sogar weiter als 30 Kilometer. Die Notwendigkeit dafür wird durch Messungen der Regierung und der SAFECAST-Gemeinschaft bestätigt. Im Oktober 2017 lebten noch etwa 55.000 Menschen als Flüchtlinge, rund drei Prozent der Bevölkerung der gesamten Präfektur Fukushima.

An dieser Stelle ist wahrscheinlich der Moment gekommen, um kurz über Strahlung und radioaktives Material zu sprechen, damit man ein Verständnis dafür bekommt, was all die Farben und Werte bedeuten. (Wer sich nur für die Bilder interessiert, scrollt jetzt einfach ein Stück weiter).

Eine Karte der aktuellen Strahlungswerte, welche am 22. März 2018 in der SAFECAST-Datenbank verzeichnet waren wurden. Die grünen Linien markieren die Rote Zone. Lizenziert unter der CC Creative Commons BY-NC 3.0-Lizenz.

Das Wichtigste zuerst: Nicht alle Arten von Strahlung sind gefährlich. Ein Smartphone beispielsweise würde sich sehr, sehr schwer damit tun, ausreichend Energie aufzubringen, um seinem Besitzer zu schaden. Sogar eine Haushaltsmikrowelle, welche auf das Stromnetz zurückgreifen kann, wärmt nur Essen auf (und das auch noch recht langsam). Aber manche Arten von Strahlung haben genug Energie, um chemische Reaktionen auszulösen (Ultraviolettes Licht) oder Elektronen aus Atomen herauszuschlagen (Ionisierende Strahlung), und ab hier wird es gefährlich. Je mehr dieser Strahlung auf Gewebe trifft, desto mehr Schaden richtet sie an, und löst damit im schlimmsten Fall Sonnenbrand, Krebs, die akute Strahlenkrankheit und andere Gesundheitsprobleme aus.

Radioaktive Elemente sind instabil und brechen irgendwann auseinander (sie “zerfallen”), aber es gibt große Unterschiede darin, wie lange es dauert, bis dies geschieht und was genau während des Zerfallsprozesses passiert. Manche Elemente sind so instabil, dass sie fast augenblicklich zerfallen, während andere extrem lange stabil bleiben können. Das gebräuchlichste Maß für die durchschnittliche Zeit, bis ein Element zerfällt, ist seine “Halbwertszeit”. Wenn man eine bestimmte Menge an radioaktivem Material in eine Kiste legt und nach Ablauf von dessen Halbwertszeit zurückkommt, wird nur noch etwa die Hälfte davon (und die Hälfte der Radioaktivität) übrig sein.

Während eines Zerfalls verliert ein Atom etwas. Entweder löst sich ein Alphateilchen und fliegt weg (Alphastrahlung), ein Elektron löst sich und fliegt weg (Betastrahlung), oder es wird Strahlung emittiert, weil gerade zu viel Energie vorhanden ist (Gammastrahlung). Alphastrahlung kann schon von einem Blatt Papier oder den toten Zellen auf der Hautoberfläche gestoppt werden, Betastrahlung kann man noch mit einem Stück Metallblech abschirmen. Um Gammastrahlung in Schach zu halten, benötigt man einige Zentimeter Blei. Aber auch wenn Alphastrahlung von einem Blatt Papier gestoppt wird, kann sie immer noch Schaden anrichten, falls sie sehr nahe an Gewebe kommt. Das ist beispielsweise der Fall, wenn das radioaktive Material eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen wird, was die Gefährlichkeit von Radongas erklärt.

Der menschliche Körper kann mit einem niedrigen Niveau von ionisierender Strahlung zurechtkommen, es gibt ja einen konstanten Strom davon in Form der Weltraumhintergrundstrahlung , aber es gibt Grenzen. Das bekannteste Messgerät für radioaktive Strahlung ist der Geigerzähler, aber er zählt nur alle ionisierenden Teilchen, welche auf den Detektor treffen, und menschliches Gewebe reagiert unterschiedlich auf die verschiedenen Arten. Was wir benötigen ist ein Maß dafür, wie schädlich die gezählten Partikel für menschliches Gewebe sind. Dieses Maß existiert, und seine Einheit ist das Sievert (Sv). Sowohl der bGeige Nano Geigerzähler als auch die SAFECAST-Karte verwenden Mikrosievert pro Stunde (μSv/h) als Einheit.

Flugzeuge befinden sich während des Fluges weiter außerhalb der Atmosphäre, und die natürliche Hintergrundstrahlung steigt in Reiseflughöhe auf etwa 3 μSv/h. Auf einem achtstündigen Flug zwischen London und New York akkumulieren sich im Körper daher um 0,02 mSv. Das ist ungefähr so ​​viel wie bei einer Röntgenaufnahme des Brustkorbes. Aber auf dem Flug ist man man über acht Stunden einer niedrigen Dosis ausgesetzt, während das Brust-Röntgen nur fünf Millisekunden dauert. Hohe Strahlungsmengen über eine kurze Zeitspanne sind gefährlicher als geringe Mengen über längere Zeit. Aus diesem Grund gibt es keine Grenzwerte für Flugbegleiter und Passagiere, aber Röntgenaufnahmen sind auf das absolute Minimum zu beschränken.

Wenn man sich die SAFECAST-Karte ansieht, werden für die meisten Bereiche außerhalb der Roten Zone weit unter 1 μSv/h ausgewiesen. Die meisten Menschen wissen wahrscheinlich nicht, dass es demnach eine viel schlechtere Entscheidung wäre, in ein Flugzeug zu steigen, als in Minamisōma herumzulaufen. In den Orangen und Roten Zonen steigen die Werte allerdings schnell auf 5 und sogar über 10 μSv/h, und dabei handelt es sich um Werte, welche auf den Straßen gemessen wurden. Angeblich liegen diese in den Wäldern viel höher.

Die japanische Regierung hat die maximal zulässige jährliche Strahlendosis für Zivilisten nach der Nuklearkatastrophe von einem auf 20 mSv pro Jahr erhöht, die normale Grenze für Arbeiter in der Nuklearindustrie. Hält sich jemand in einer der Grünen Zonen an einem Ort mit 0,1 μSv/h auf, ergeben sich daraus nur etwa 9 mSv pro Jahr. Geht man davon aus, dass einige Teile von Namie bis zu 0,5 μSv/h erreichen, wäre die jährliche Maximaldosis dort nach weniger als sechs Monaten erreicht. Innerhalb der Roten Zone kann die jährliche Maximaldosis in weniger als drei Monaten erreicht werden, und innerhalb des Atomkraftwerkes gibt es Orte, an welchen in weniger als einer Stunde eine tödliche Dosis von einem Sievert anfällt.

Arbeiten für die Zukunft

Ich wollte von Herrn Anbe wissen wie er sich angesichts all dieser Herausforderungen die Zukunft vorstellt, und insbesondere ob er daran glaubt, dass ausreichend Bewohner zurückkommen werden, damit sich die Region wieder selbst tragen kann.

Die Stadtverwaltung von Minamisōma hatte prognostiziert, dass die Bevölkerung wieder auf etwa 4.700 (von ursprünglich 12.800) Menschen anwachsen würde, aber im Moment haben wir erst 2.200 erreicht. Meine persönliche Schätzung liegt bei 3.500 bis 4.000 Menschen innerhalb einiger Jahre, aber ich weiß nicht, ob wir das dann übertreffen können. Die Menschen, die jetzt hier leben, sind nicht mehr dieselben. Früher lebten hier alle Generationen einer Familie – Kinder, Erwachsene und ältere Menschen. Jetzt bleiben nur noch die Alten übrig.Die offiziellen Statistiken zeichnen dieses Bild für die gesamte Region. Im Durchschnitt haben sich rund 20 Prozent der Bevölkerung für eine Rückkehr entschieden. Die Schulen wurden im April 2017 wieder eröffnet, aber nur vier Prozent der Schüler sind in ihre früheren Schulen zurückgekehrt. Japan hat bereits eine extrem schnell alternde Gesellschaft, aber in der ehemaligen Evakuierungszone ist dieses Problem derzeit noch viel schlimmer.

Basierend auf meinen Erfahrungen in anderen Teilen der Welt versuchte ich mich an einigen Vorschläge, mit denen die Regierung die Menschen dazu motivieren könnte, zurückzukehren. Zum Beispiel indem sie die Steuern für die Bewohner senkt oder die Grünen und Orangen Zonen sogar in ein Duty-Free-Gebiet verwandelt. “Wir haben vielen Unternehmen Subventionen angeboten, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, zum Beispiel Steuersenkungen oder den Bau einer Infrastruktur für Fabriken. Aber die Entscheidung, die Steuern zu senken, liegt nicht bei der Stadtregierung, die japanische Regierung müsste das machen” .

Vielleicht Touristen anlocken? “Wir hatten schon vor dem Unfall nicht viel Tourismus. Wir haben eine schöne Küste, und jedes Jahr im Juli findet in Minamisōma das traditionelle Soma-Nomaoi Samurai Festival statt, aber darüber hinaus war diese Zone nicht sehr attraktiv für Touristen. Und jetzt blockiert der Tsunami-Schutzwall auch noch den Blick auf das Meer“. Die neueste Idee war, sowohl Unternehmen aus der Robotik als auch aus der Nuklearbranche anzuziehen. “Wir wollen hier ein Roboter-Testfeld aufbauen, denn im Atomkraftwerk arbeiten bereits Roboter, und es werden mehr davon für die Stilllegung benötigt. Ein großer Teil des Landes ist auch immer noch kontaminiert. Wenn wir es schaffen, hier eine solche neue Industrie aufzubauen, wird es neue Arbeitsplätze geben“.

Zurück nach Namie

Ich bedankte mich mit einer Tüte deutscher Süßigkeiten (in Japan sehr beliebt) bei Herrn Anbe, und wir setzten uns wieder ins Auto. Bevor wir den Rest der Gegend erkundeten, hielten wir an einem der drei verbliebenen Restaurants und ließen uns einen Teller Sushi schmecken.

Auf dem Weg nach Namie stießen wir in der Nähe der Küste auf weitere Ruinen. Mein Gehirn stufte den traurigen Anblick langsam als “normal” ein, aber der Kontrast zu all den schönen Orten, welche ich in den Tagen zuvor gesehen hatte, hätte nicht größer sein können.

Es war schon sehr traurig, so viele persönliche Gegenstände in den Ruinen zu sehen. Schuhe, Fahrräder, Funkuhren, Haushaltsgegenstände, manchmal waren sogar persönliche Dokumente wie Urkunden dabei.

Dieses Gebäude in der Nähe des Wohnhauses schien eine Scheune mit landwirtschaftlichem Gerät gewesen zu sein. Maschinen waren zu Boden gefallen, das Metall nicht länger vor der Witterung geschützt. Alles rostete langsam und unaufhaltsam vor sich hin.

Diese offizielle Messstation zeigte einen Messwert von 0,053 μSv/h, was noch deutlich weniger war als die 0,1 μSv/h, welche ich in meinem Rechenbeispiel für die Grüne Zone angenommen hatte.

Ein ganzes Viertel mit vielen Häusern hatte einst diese Straße gesäumt, aber nach dem Tsunami blieben nur noch einige wenige Ruinen übrig.

Ob diese Waschmaschine wohl immer schon im Hauseingang gelegen hatte? Wahrscheinlich nicht, was auf die immensen Kräfte hindeutete, welche hier am Werk gewesen sein mussten. Ich bin nicht in der Lage, eine Waschmaschine ganz alleine anzuheben, aber das Erdbeben und der Tsunami haben das offensichtlich mit Leichtigkeit geschafft.

Auf unserem Weg kamen wir an mehreren großen Schrottplätzen vorbei. Es gab nicht nur eine Menge Trümmer, sondern einige davon waren auch immer noch kontaminiert. Ein Großteil der Fläche von Futaba wird höchstwahrscheinlich ein dauerhaftes Sperrgebiet bleiben, da dort eine große Zahl von Lagertanks mit stark kontaminiertem Wasser aus dem Atomkraftwerk steht.

Zu Fuß durch Namie

Namie ist zu einem Symbol für das gesamte Gebiet geworden, da es leicht zugänglich ist, sich gleichzeitig aber viele der beschädigten Gebäude im westlichen Teil der Stadt innerhalb der Orangen Zone befinden und Menschen deswegen nicht dauerhaft dort leben dürfen. Bilder dieser “Geisterstadt” waren in den letzten Jahren in verschiedenen Nachrichtenmedien und im Internet zu sehen.

Um das Leben der in der Nachbarschaft lebenden und arbeitenden Menschen zu erleichtern, hatte die Stadtverwaltung diesen kleinen Platz eingerichtet. Die Gebäude links und rechts beherbergten grundlegende Annehmlichkeiten wie ein Café, eine Reinigung und einen kleinen Supermarkt. Dies war besonders deswegen wichtig, weil die großen Geschäfte dauerhaft geschlossen geblieben waren.

Karin hat mir mitgeteilt, dass dieser “Friend Shop” in der Zwischenzeit ausgeräumt wurde und kurz vor dem Abriss steht.

Den Videoverleih gegenüber erwartet wahrscheinlich das selbe Schicksal. Action-Filme wie Umizaru 3: The Last Message (海猿) schienen im Jahr 2011 sehr gefragt gewesen zu sein, zumindest deuteten die Werbebanner darauf hin.

Während wir durch Namie gingen, begann es stark zu regnen und die Temperatur sank spürbar. Ich musste meine Kameras wasserdicht verpacken, wir wurden nass und zitterten, aber ich konnte nicht mehr einfach so in das warme und trockene Auto zurückkehren. Überall waren so viele Artefakte zu sehen, so viele beschädigte Gebäude, so viele Überreste von dem, was einst das tägliche Leben von mehreren Tausend Menschen gewesen war.

Auf dem nächsten Bild sieht man nicht das Erdgeschoss, sondern den ersten Stock. Die Wände des Erdgeschosses waren wohl langsam zur Seite gekippt, während der erste Stock mit der Cocktail-Bar nach unten fiel und fast intakt blieb. Selbst die Flaschen standen noch aufrecht.

Der Gedanke an die Bauarbeiter nicht weit weg von uns gab uns einen zusätzlichen Motivationsschub. Ungefähr eintausend Hausbesitzer hatten bereits entschieden, dass sie nicht mehr zurückkommen und ihre Häuser für immer verlassen würden. Innerhalb von Monaten oder höchstens ein oder zwei Jahren würde der größte Teil dieser Stadt verschwunden sein, und es würde nichts mehr übrig bleiben, was noch an das wahre Ausmaß der Katastrophe erinnern würde. Diese Bilder könnten dann einige der wenigen noch existierenden Aufnahmen sein.

Einige Geschäfte auf der Hauptstraße sahen immer noch so aus, als ob nie etwas passiert wäre. Wenn ich nicht wüsste, dass die Bilder dieses Friseurladens in einer Evakuierungszone mitten zwischen anderen, von einem Erdbeben zerstörten Gebäuden aufgenommen wurden, würde ich wahrscheinlich annehmen, dass es sich um ein normales, altes, verlassenes Geschäft handelt.

Stellt euch vor Ihr müsstet um Ihr Leben rennen, an einen weit entfernten Ort fliehen, könntet erst sechs Jahre später in euer altes Wohnzimmer zurückkehren und würdet es in diesem Zustand vorfinden. Das Gebäude muss abgerissen und neu aufgebaut werden, bevor Ihr wieder hier leben könnt, alle eure persönlichen Gegenstände müssen ersetzt werden. Aber die ganze Nachbarschaft ist verlassen. Die meisten eurer Familienmitglieder, Freunde und Bekannten sind weg. Alle Geschäfte, in welchen ihr früher eingekauft haben, sind geschlossen, es gibt keine Arztpraxis mehr in der Nähe, kein Krankenhaus. Radioaktives Material steckt immer noch im Boden, unsichtbare Strahlung liegt in der Luft.

Ich denke, ich kann diejenigen sehr gut verstehen, die beschlossen haben, jetzt nicht zurückzukommen, auch wenn manche Gebiete wieder für sicher erklärt werden und die wichtigste Infrastruktur langsam wieder aufgebaut wird. Es wird noch viele Jahre dauern, bis Ruhe eingekehrt und alles, was an die vielen Tragödien erinnert, verschwunden ist.

Stellenweise erschien es wie ein Wunder, dass einige der Häuser immer noch standen und noch nicht unter der Witterung zusammengebrochen waren.

Durch die Rote Zone

Wir entschieden uns für eine Durchquerung der Roten Zone auf der Route 6 von Norden nach Süden. Auf dieser Straße soll das Fahrzeug nicht verlangsamt, umdreht oder gar verlassen werden, falls es nicht unbedingt notwendig war. Der Abschnitt dieser Straße innerhalb der Roten Zone war etwa 15 Kilometer lang. Wie man auf der folgenden Visualisierung unserer Messspur sehen kann, begannen die Strahlungsmesswerte direkt nach der Einfahrt sofort anzusteigen. Die meiste Zeit lagen sie zwischen 1 und 2 μSv/h, aber man muss bedenken, dass die Straßen dekontaminiert wurden und der gerade fallende Regen die Luft und die Oberflächen etwas gereinigt hatte.

Die höchste von uns gemessene Strahlung lag bei etwa 4 μSv/h, zwei Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt. Im Oktober 2011 hatte ein SAFECAST-Team die Route 114 kartografiert, welche die Rote Zone von Westen nach Osten durchquert, und dort Strahlungswerte von bis zu 20 μSv/h gemessen. Genug, um innerhalb von einem Monat das jährliche Limit zu überschreiten. Im September 2017, als die Route 114 wieder eröffnet wurde, lag der höchste registrierte Wert noch bei 6 μSv/h. Das ist nicht überraschend: Cäsium-134 hat eine Halbwertszeit von nur zwei Jahren, Cäsium-137 eine von 30 Jahren. Nach fünf Jahren war alleine die von diesen beiden Elementen ausgehende Strahlung um etwa 60% zurückgegangen. Allerdings wird auch nach 50 Jahren noch genügend Strahlung übrig sein, um große Teile der Roten Zone weiter unbewohnbar zu machen.

Früher gab es mobile Kontrollpunkte mit Geigerzählern an den Grenzen zur Roten Zone, aber diese wurden später entfernt. Auf einem ehemaligen Parkplatz an der nördlichen Grenze gab es noch eine in einigen Containern untergebrachte, optionale Strahlenkontrollzone für Autos. Aus Neugier haben wir unser Auto durchmessen lassen, im Allgemeinen wird die Messstation allerdings kaum noch benutzt.

Ich durfte hier keine Fotos machen, aber es hätte sowieso nicht viel zu sehen gegeben. Die Arbeiter scannten mit ihren tragbaren Geigerzählern nicht mehr wie in den vergangenen Jahren das ganze Auto, sondern nur noch die Reifen und Kotflügel.

Etwa auf der Hälfte der Strecke zweigt die Straße zum Haupteingang des Atomkraftwerks ab. Der Öffentlichkeit ist der Zutritt verwehrt, also wurden wir in rund zwei Kilometern Entfernung von einem Wächter an einem Tor aufgehalten. An dieser Stelle haben wir auch den höchsten Wert gemessen.

Mit meinem Teleobjektiv konnte ich zwei Bilder von den gigantischen Kränen über den beschädigten Reaktoren schießen. Gegenwärtig arbeiten etwa 3.000 Arbeiter an der Stabilisierung, Isolierung und Stilllegung der Anlage. Eine ihrer wichtigsten Bemühungen, der Schutz des Grundwasser und des Meeres vor verseuchtem Wasser mittels einer künstlichen “Eisbarriere”, hat sich jedoch bislang als erfolglos erwiesen. Immer noch entweichen täglich viele Tonnen verseuchten Wassers durch die Barriere und müssen in über 1.000 Tanks gelagert werden.

Cäsium kann aus diesen Tanks entfernt werden, aber für einige radioaktive Elemente wie Tritium existiert keine Filtertechnologie in industriellem Maßstab. Irgendwann wird das kontaminierte Wasser höchstwahrscheinlich in das Meer abgelassen werden müssen. Dies wollte man eigentlich mit aller Kraft vermeiden.

Sieben Jahre nach der Katastrophe hat sich die Lage für die Arbeiter angeblich spürbar verbessert. Früher war es wohl unmöglich, ohne Schutzanzug im Freien herumzulaufen, aber die meisten radioaktiven Herde wurden inzwischen entfernt oder mit Beton übergossen. Der größte Teil des Komplexes soll wieder mit normaler Arbeitskleidung begehbar sein, geschmolzene Brennstäbe wurden geborgen und in einem neuen Gebäude gelagert. Derzeit geht man davon aus, dass es nun tatsächlich möglich sein wird, die Reaktoren innerhalb der nächsten 40 Jahre zu bergen und endgültig zu entsorgen.

Wir fuhren weiter nach Süden, immer wieder einen Blick auf unseren Geigerzähler werfend, und verglichen die Messwerte mit den offiziellen Überwachungsstationen. Selbst auf der dekontaminierten Straße konnten die Strahlungswerte noch auf bis zu 3 μSv/h steigen, also etwa wie in einem Flugzeug auf Reiseflughöhe.

Namie hatte sich wie eine Geisterstadt gefühlt, aber die Rote Zone war wie eine riesige Geisterzone. Die Route 6 führt an Futaba vorbei und durch Ōkuma, zwei Städte mit einer ehemaligen Gesamtbevölkerung von etwa 17.500 Einwohnern. Es gab also alles, angefangen von Häusern, großen Supermärkten, Baumärkten, und Tankstellen über Fabriken und Autohäuser bis hin zu Spielhöllen.

Alle Straßen und Wege, welche von der Route 6 abzweigten, waren mit Zäunen, Barrieren und teilweise sogar radioaktiv verstrahlten Objekten und Fahrzeugen blockiert.

Die einzigen beiden belebten Orte in der Roten Zone waren diese beiden Tankstellen. Autofahrer müssen in der Lage sein, ihre Autos zu betanken oder im Notfall Hilfe zu bekommen, und die Arbeiter benötigen ebenfalls Kraftstoff für ihre Fahrzeuge.

Da uns noch genug Zeit blieb, beschlossen wir, umzukehren, nach Namie zurückzukehren und dann ein zweites Mal Richtung Süden zu fahren. Auf diese Weise haben wir die Rote Zone drei Mal durchquert.

Nur sehr wenige Menschen liefen im Freien herum, die meisten von ihnen offensichtlich Arbeiter und Beamte. Ich glaube nicht, dass ich damit den Mut hätte, meinen Lebensunterhalt auf Dauer so zu verdienen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was diese beiden Personen vorhatten…

An einigen Stellen konnten wir die unterbrochene Jōban-Bahnlinie erkennen. Die Japan Railways versuchen seit mehreren Jahren, die Linie wieder zu verbinden, aber die Strahlungspegel sind immer noch so hoch, dass sich die Reparatur der Schienen viel komplizierter als angenommen erwiesen hat. Der vollständige Wiederaufbau soll nun bis 2020 abgeschlossen sein.

Am Ende unserer Tour fuhr mich Karin zur Tomioka Station, von wo aus ich weiter nach Nikkō fuhr.

Abschließende Gedanken

Ich habe während meines Besuchs in der Evakuierungszone von Fukushima zwei wichtige Lektionen gelernt.

Zum einen wäre die Atomenergie wahrscheinlich eine gute Idee, falls alle technischen Probleme gelöst werden könnten, aber die Menschheit hat dabei bereits viel zu oft versagt. Herr Anbe hat es in einer Antwort auf eine meiner letzten Fragen sehr schön auf den Punkt gebracht: “Wir können nicht vorhersagen, wann die nächste Naturkatastrophe kommen wird und wie groß sie sein wird. Menschen können die Natur nicht kontrollieren, und wir können auch Kernkraftwerke nicht kontrollieren. Wir können kein Atomkraftwerk bauen, welches die nächste Naturkatastrophe überleben wird. Während der Evakuierung habe ich miterlebt, wie die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, Kinder mit körperlichen Behinderungen, ältere Menschen, in den Notunterkünften zurückgelassen wurden, ohne gute Pflege. Die schwächsten leiden immer am meisten unter Katastrophen und diesen künstlich geschaffenen Problemen. Atomkraftwerke können von Menschen nicht gehandhabt werden. Es wäre gut, wenn es sie nicht mehr gäbe“.

Trotz zahlreicher Unfälle in kerntechnischen Anlagen (mindestens 20 Kernschmelzen seit den 1950er Jahren) und der Existenz zweier großer, radioaktiv verseuchter Evakuierungszonen (Tschernobyl und Fukushima) sind weltweit immer noch mindestens 450 Kernkraftwerke in Betrieb. Dabei liefern sie weniger als 10% des elektrischen Energiebedarfs des Planeten. Jeder, der in der Nähe eines Atomkraftwerks wohnt, jeder Ingenieur und vor allem diejenigen, welche sich weiter für die Kernkraft einsetzen, sollten die Evakuierungszone von Fukushima besuchen und mit eingen Augen sehen, was passiert, wenn die Technik versagt. Fukushima könnte überall passieren. Wir sollten unsere Lehren aus der Tragödie ziehen, welche seine  Opfer durchmachen mussten.

Zum Anderen entsteht leicht der Eindruck, dass es nicht mehr viel Hoffnung für die Evakuierungszone gäbe, aber dem ist nicht so. Die Bilder sehen schrecklich deprimierend aus, aber das liegt eben auch daran, dass sie zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt aufgenommen wurden. Sie sollen deprimierend sein. Sie sind meine Warnung an den Rest der Welt. Aber die Realität vor Ort wird nie wieder so düster aussehen wie auf diesen Bildern. Die Strahlungswerte sind an den meisten Orten bereits niedrig genug und werden nur noch weiter sinken, die Ruinen und die Trümmer werden verschwinden, weitere Gebiete werden im Laufe der Zeit zu Orangen und Grünen Zonen werden.

Sechs Jahre nach der Katastrophe ist die Evakuierungszone bereits auf etwa 30% ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft und macht jetzt weniger als ein Prozent der Fläche der gesamten Präfektur Fukushima aus. 80 Prozent der ehemaligen Bewohner sind noch nicht zurückgekommen, aber das bedeutet auch, dass 20 Prozent dies bereits getan haben. Neue Bewohner werden sich niederlassen, der Tourismus wird zurückkehren, die Wirtschaft wird wieder anlaufen. Die Normalität wird zurückkehren.

Tatsächlich ist die Normalität schon zurückgekehrt. Vor vier Tagen hat Karin mir diese Bilder von blühenden Sakura () aus dem Odaka-Schrein geschickt, Kirschblüten, welche im März und April in ganz Japan blühen und als Kulisse für traditionelle Picknicks dienen. Ich freue mich schon darauf, nach Fukushima zurückzukehren und sie mit meinen eigenen Augen zu sehen 🙂

Ich möchte Karin Taira für die Organisation dieser Tour, ihre ausgezeichnete Arbeit als Übersetzerin und ihre Hilfe bei der Verfassung dieses Artikels danken, Anbe Katsumi für die Zustimmung zum Interview, und dem NOMADO Projekt für die Weiterleitung meiner Anfrage an Karin.

Dieser Artikel wurde von Simon für One Man, One Map geschrieben. Das Original befindet sich hier. Alle Rechte vorbehalten.

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